Kapitel 3

„Die Frau des Kriegers bot Zei eine stolze Summe in kostbaren Juwelen oder eine Nacht voller zügelloser Ausschweifungen an. Für Zei stand die Wahl natürlich schon fest.“ — Zei und die Nacht voller zügelloser Ausschweifungen

Das Wandelnde Haus bestand aus fünf unterirdischen Stockwerken mit Schlafquartieren und Ausbildungshallen, die durch eine verstärkte Wendeltreppe verbunden waren. Mürrisch folgte Jia dem Habgierigen Shen die gewundene Treppe hinauf. Auf irgendeine Weise hatte sich die Nachricht von der Ankunft des Besuchers schon verbreitet. Besorgte Blicke wurden durch Schießscharten geworfen und hektisches Flüstern schallte durch die Dunkelheit, als die gefährlichsten Meuchelmörder Xiansais sich an den besten Plätzen drängelten, um etwas sehen zu können.

Jia knurrte. Darüber würden sie noch lange prahlen.

„Ich weiß, dass Ihr nicht er seid“, sagte sie.

„Nicht wer?“, fragte Shen fröhlich.

„Zei! Ihr seid nicht Zei!“

„Das habe ich auch nie behauptet.“

„Ihr habt auch nie behauptet, dass Ihr es nicht seid!“

„Tja, aber wenn ich Euch die ganze Nacht lang erzählen muss, was ich bin und nicht bin, haben wir keine Zeit, in den Turm der Rauen Liang einzubrechen.“

Das Flüstern außerhalb der Mauern verstummte plötzlich und hundert Leute sogen vor lauter Schreck die Luft aus dem Treppenhausschacht. Jia blieb abrupt stehen.

Was?“, kreischte sie.

Shen warf ihr einen Blick hinter dem Bogen der Treppe zu.

„Oh, hatte ich das noch nicht gesagt? Ja, wir werden Geheimnisse aus dem Turm des Beraters entwenden. Ist das nicht wundervoll?“

Zhous Gesetze wurden von einem Herrscherrat verabschiedet, dem jeweils ein Mann oder eine Frau aus jeder der neun Großen Familien angehörte. Da keine der Familien so töricht war, den anderen zu vertrauen oder mit ihnen zusammenzuarbeiten, hatten sie vor langer Zeit das Amt des Beraters eingeführt.

Diesen mächtigen und gefährlichen Posten hatte normalerweise ein erfolgreicher Händler aus dem Volk inne. Er oder sie brachte wichtige Angelegenheiten3 beim Herrscherrat vor und führte seine Befehle aus4, wodurch die Großen Familien Zeit bekamen, um Maskeraden abzuhalten und die Ermordung ihrer Lieben zu planen. Berater agierten vollkommen unbeaufsichtigt und herrschten de facto über Zhou. Außerdem überlebten sie ihre einjährige Amtszeit nur selten.

Aus diesem Grund war die momentane Beraterin, die Raue Liang, recht ... ungewöhnlich. Sie hatte die immer häufiger eintreffenden Berichte über Dämonenangriffe im angrenzenden Reich des Schreckens und im Rest der Welt genutzt, um vier Jahre lang an der Macht zu bleiben, und dabei ganze 16 Mordversuche überlebt. Vor ihrer Zeit als Beraterin hatten die Großen Familien die Stadtwache mit dem Abschaum ihrer Privatarmeen besetzt; die Raue Liang jedoch läuterte, feuerte oder tötete die Trinker, Spione und Kriminellen, bis eine gute ausgebildete und besser bezahlte Truppe übrig blieb, die nur noch ihr unterstand.

Kurz gesagt: Die Raue Liang war der einzige Garant für Ordnung in einer Stadt, die im Chaos gedieh. Und genau das führte zu einem Konflikt mit der Zehnten, die zu Geld kam, indem sie die Reichen und Mächtigen zufriedenstellte. Seit Jahren schon eskalierte ein stiller Krieg immer weiter. Liangs Wachmänner überfielen Lagerhäuser und schlachteten Jias neue Familie in den Straßen ab. Im Gegenzug statteten Onkel und Tanten den Wachkasernen Besuche ab und sorgten dafür, dass die Flammen in der gesamten Stadt zu sehen waren.5

Niemand, nicht einmal die Erbauer und die Landbesitzer, hassten einander mehr als der Gebrochene und die Raue Liang.

Jia lehnte sich an die Wand. Und wir werden sie bestehlen.

„Ich bin tot“, sagte sie.

„Nur wenn ihre Wachen uns schnappen“, sagte der Habgierige Shen mit abwiegelnder Handbewegung. „Oder wenn wir beim Aufstieg runterfallen.“

„Aufstieg?“, fragte Jia und fasste sich an den Kopf.

„Aber ja. Wir werden den Turm von außen erklimmen.“ Shen runzelte die Stirn. „Jetzt, da ich den Plan ausspreche, erscheint er mir doch ziemlich riskant. Zum Glück besitzt Ihr ja eine Geheimwaffe.“

„Ach ja? Und welche?“

„Mich!“, sagte Shen und verschwand wieder hinter der Kurve. Jia spürte, wie ihre Familie sie beobachtete.

„Sei stark, Kleine Schwester“, sagte einer von ihnen und steckte die Hand durch eine Schießscharte, um sie auf ihre Schulter zu legen. „Sei leise. Sei vorsichtig.“

„Versteck dich vor den Augen aller“, sagte ein anderer.

Jia seufzte. Der letzte Satz war ein Zitat. Aus dem Buch des Zei.


Der Habgierige Shen sprang aus der falschen Ladenfront des Hauses und Jia folgte ihm mürrisch. Unebene Kopfsteinpflasterstraßen zogen sich durch Ansammlungen heruntergekommener, mehrstöckiger Mietshäuser, die den Blick auf die Sterne über ihnen verhinderten.

Nicht aber den Blick auf den gesamten Horizont. Eine halbe Meile entfernt erhob sich der Turm des Beraters verächtlich über den ihn umgebenden Schmutz und erwartete sie.

Der Habgierige Shen stand absolut still in der Mitte der unebenen Straße. Im sanften Mondlicht schien sein verfilzter Bart beinahe zu leuchten und eine schwache Erinnerung blitzte in Jias Geist auf ...

Dann war sie wieder verschwunden. Sie schüttelte den Kopf und ging auf Shen zu. Vielleicht überlegte es sich der alte Betrüger ja gerade noch mal.

Nein. Er war wie hypnotisiert vom Anblick eines Händlers, der in der Ferne auf der sich zum Turm schlängelnden Straße stand. Der vom brutzelnden Fleisch ausgehende duftende Rauch wehte in Spiralen zu ihnen herüber.

„Wir sollten den Weg über die Dächer nehmen.“

„Auf den Dächern wird Curryfleisch verkauft?“, fragte Shen erstaunt. „Ich war viel zu lang nicht mehr in dieser Stadt der Wunder.“

„Nein“, blaffte Jia. „Das ist sicherer.“

„Ah, ja“, sagte Shen und nickte ernst. „Sicherheit steht an erster Stelle. Keine Sorge. Wenn wir von den Dächern springen und gegen sieben Männer kämpfen müssen, lass ich Euch den Vortritt.“

Er wankte in Richtung des Straßenhändlers und ließ Jia mit offenem Mund zurück. Er musste es wohl zufällig mitgehört haben. Andererseits hatte Stiefvater Yao die Sache mit dem Dach gar nicht erwähnt ...

Wagen und Grill des Händlers standen an einer offenen Küche, durch einen komplizierten Aufbau von Ketten und Zahnrädern mit den rußgeschwärzten Mauern und der Decke verbunden. Es sah aus, als könnte man das gesamte Gerät schnell nach hinten ziehen, um die Eisenplatte über dem Wagen nach unten schwingen zu lassen und den Laden zu verschließen. Als Jia ihn eingeholt hatte, drängelte sich der Habgierige Shen unter Entschuldigungen an der kleinen Schlange wartender Kunden vorbei. Danach bestellte er alles, was auf dem Grill lag.

„Alles, Großvater?“, fragte der Händler, der seine Stirn unter einem breiten Strohhut mit nach oben gefalteter Krempe runzelte. Er beachtete die murrenden Leute nicht – alles auf einmal zu verkaufen, bedeutete, dass er sich mit einem Beutel voller Gold früh schlafen legen konnte.

„Aber sicher!“, sagte Shen. „Meine junge Freundin und ich haben einen beschwerlichen Aufstieg vor uns und ...“

„Wir waren zuerst hier, alter Mann“, knurrte eine mittelalte Frau mit müden Augen und einem schweren Sack über ihrer Schulter, aus dem gackernde Geräusche drangen.

„Ach ja? Unmöglich!“, sagte Shen. „Eine solch schöne Frau in der Schlange wäre mir doch aufgefallen. Aber hier soll keiner hungrig bleiben!

„Händler!“, rief er und schlug mit seiner Hand auf den Wagen. „Fleisch für meine Freunde!“

Jia zwängte sich an der still lächelnden Frau und einem Straßenmusiker mit einem großen 18-saitigen Matar auf dem Rücken vorbei.

„Was tut Ihr da?“, zischte sie.

„Ich bereite mich auf unsere Geheimmission vor“, flüsterte Shen so laut, dass man es wahrscheinlich noch auf der anderen Straßenseite verstehen konnte. Jia hörte ein brutzelndes Geräusch.

„Ihr macht hier einen ganz schönen Aufruhr!“

„Ah. Ihr habt vielleicht recht“, sagte Shen. „Ich werde mich zurückhalten.“

„Großvater“, sagte der Händler mit aufgerissenen Augen. „Eure ... Eure Hand!“

Shen sah erst ihn und dann die Hand an, die er nicht auf den Wagen, sondern den rot glühenden Grill geschlagen hatte.

„Nichts passiert!“, sagte der alte Mann und stützte sich mit der anderen Hand auf dem Grill ab. „Ich bin ziemlich resistent gegen Verbrennungen und heute Abend ist es recht kühl. Also, wo ist mein Fleisch?“

„Zuerst das Geld“, sagte der Händler und verzog das Gesicht aufgrund des anhaltenden Zischens.

„Oh, natürlich. Entschuldigung.“ Shen stellte sich auf und wühlte unter Murmeln mit beiden Händen in seinen Beuteln. Schließlich erhellte sich sein Gesicht und er zog einen Rubin hervor. Seine Handflächen waren nicht verbrannt.

„Reicht das?“

Die Augen der Leute in der Schlange wanderten von den Händen zum Rubin und danach zu Shens faltigem Gesicht. Jemand flüsterte „Juwelenschmied“ und „Zei“, und diesmal war sogar Jia ... unsicher. Der Edelstein. Die unverletzte Haut, die eigentlich verbrannt sein sollte. Das Gift. Die Magie. Wer war dieser Mann?

Aber sie war jung und ihr Zynismus brach sich mit voller Macht Bahn.

„Das nennt Ihr zurückhaltend?“, fragte sie.

„Das ist noch nicht der Größte“, sagte Shen mit besorgtem Gesichtsausdruck.

„Dafür könntet Ihr die ganze Straße kaufen!“, sagte Jia. „Und Ihr gebt ihn für das Fleisch eines Wagens her?“

„Riecht Ihr das denn nicht? Ein Rubin im Austausch gegen solch köstliches Fleisch ist kaum ein gerechter Handel!“

„Ihr seid ein Dummkopf“, sagte Jia.

„Schönheit macht die besten Männer zu Dummköpfen“, sagte Shen und zwinkerte der Frau mit dem Sack voller Hühner zu, die wie eine Priesterin errötete. „Aber Ihr habt durchaus recht.“

„Händler, wenn Ihr diesen wundersamen Hut auch noch dazugebt, gehört dieser armselige Rubin Euch“, sagte er und schwang den Edelstein über seinem Kopf. Der Händler konnte die Augen gar nicht mehr von ihm lassen.

„Hört auf damit, ihn so zu präsentieren“, sagte Jia. „Wollt Ihr umgebracht werden?“

„Von diesen guten Leuten?“, fragte Shen, übergab den Rubin und setzte seinen neuen Hut auf. „Mir erscheinen sie vertrauenswürdig. Und wer sollte mich wegen meiner Edelsteine umbringen?“

„Nur fast die gesamte Stadt“, sagte Jia. „Und hört auf, so laut über Eure verdammten Edelsteine zu reden.“

„Ich teile sie liebend gerne“, sagte Shen und schob den Hut zurecht. „Ich habe reichlich davon.“

Wie auf ein Stichwort stolzierten drei dürre Raubeine aus einer Gasse in der Nähe. Jia schob langsam einen Fuß nach hinten und ließ, verborgen von der nervösen Menschenmenge, einen Dolch lautlos in ihre Hand rutschen. Diese Idioten trugen das Mal der Zehnten nicht. Daher handelte es sich um unbefugte „Freischaffende“,6 die bestimmt nicht verschwinden würden, wenn man sie darum bat. Wahrscheinlich würden sie versuchen, sie zu töten. Sie musste sie also einfach nur vorher tö...

Eine Patrouille der Stadtwache der Beraterin näherte sich aus der Gegenrichtung. Perfekt. Und Jia trug natürlich ihre vollkommen unauffällige Meuchelmörderrüstung.

Auch der Händler schien zu ahnen, was bevorstand. Er zog den Wagen zurück und das Eisendach schwang herunter.

Der Habgierige Shen hielt es mit einer Hand fest und hob es ohne jegliche Spur von Anstrengung wieder hoch.

„Ist das“, fragte er, „Ingwerwein, den ich da im Regal hinter Euch erblicke?“

Der Händler zog verzweifelt an dem nicht nachgebenden Griff und nickte.

„Ich gebe Euch einen Opal für jede Flasche“, sagte Shen. Seine Stimme schallte von den hohen Gebäuden über ihm zurück.

Der Händler erstarrte. Der glatzköpfige Schläger ließ seinen Knüppel fallen.

Wirklich? Einen Opal für jede Flasche?“, fragte Jia.

„Ich habe in meinem Leben viel zu wenig Ingwerwein getrunken“, sagte Shen mit ernster Miene. „Nur Weniges bedauere ich mehr.“

Der Händler setzte sein Leben für die Opale aufs Spiel und gab Shen eine Flasche. Dieser warf sie dem glatzköpfigen Schläger zu, ohne hinzusehen.

„Wein für meine Freunde!“, rief der alte Mann. „Da wir nun ein Publikum haben, brauchen wir auch Musik!“

Ein Publikum? Jia blickte hinauf. Die Leute lehnten sich aus den offenen Fenstern, um zu sehen, was los war. So etwas geschah sonst niemals. Des Nachts war Zhou eine Stadt der versperrten Türen und geschlossenen Fensterläden. Man versuchte nicht herauszufinden, was es mit etwaigem Lärm auf sich hatte – es sei denn, man wollte seinen Ursprung persönlich kennenlernen.

„Dürfte ich mir Euer Matar ausborgen?“, fragte Shen den Straßenmusiker.

„Dürfte ich etwas Wein haben?“

„Ein gerechter Tausch!“ Wein und Instrument wechselten die Hände. Shen strauchelte unter dem Gewicht des Matar. „Die hatte ich leichter in Erinnerung. Ich brauche beide Hände.“

„Du!“, sagte er zu dem Glatzkopf. „Hilf dem Händler, den Wein zu verteilen. Und die anderen singen mit, falls sie den Text kennen!“

Alle kannten den Text, besonders deshalb, weil er anrüchig war. Nur wenige Lieder über Zei waren für jüngere Ohren geeignet. Bei der Stelle, an der die Pfauenkönigin Zei mit ihren drei Schwestern im Baum fand, hielten sich die Frau mit den Hühnern und der glatzköpfige Schläger lauthals lachend aneinander fest.

Immer mehr Leute kamen auf die Straße, um auch eine Flasche abzukriegen. Die Stadtwache traf ein und pfiff weitere Männer herbei, um das Chaos in den Griff zu bekommen. Wiedervereint mit seinem Matar und Shens Hut auf dem Kopf schlug der Straßenmusiker wie wild in die Saiten und sang gemeinsam mit seinen neuen Freunden. Der Händler brüllte seiner Frau zu, sie solle aufwachen. Dann wies er sie an, den Beutel mit den Opalen zu verstecken und mehr Ingwerwein und rohes Fleisch aus dem Keller zu holen ...

Zehn Minuten später und einige Häuserblöcke entfernt standen Jia und der Habgierige Shen am Rand des Hofs, der den Turm des Beraters umgab. Sie sahen, wie die letzten Fußpatrouillen in Richtung des spontanen Straßenfests aufbrachen.

„Ihr seid ein gerissener alter Teufel“, sagte Jia. „Das habt Ihr alles absichtlich gem... Wartet mal, habt Ihr eine Flasche Wein mitgenommen?“

„Bei langen Aufstiegen bekomme ich immer Durst“, sagte Shen, entfernte den Korken mit geübtem Daumen und trank die Flasche in drei Zügen halb leer.

Verwundert darüber, dass ein mindestens viermal so alter Mann sie zwang, in dieser Situation die Rolle der Erwachsenen zu übernehmen, sagte Jia: „Ihr könnt nicht betrunken diesen Turm hinaufsteigen, alter Mann.“

„Warum nicht?“, fragte Shen. „Ich bin schon Tausende von Türmen hinaufgestiegen. Nüchtern war es auch nie besser.“

„Ihr werdet abstürzen!“

„Oh nein, nein. Ich bin zu zart, um abzustürzen. Ich habe die Theorie zwar noch nie getestet, bin mir aber sicher, dass ich sanft zu Boden schweben würde.“

„Gut“, sagte Jia und drückte gegen ihren Nasenrücken. „Dann los. Wenn ich das Zeichen gebe ...“

Shen flitzte bereits über den Hof. Sie fluchte und lief ihm hinterher, wobei sie jeden Moment den Ruf einer Wache erwartete. Aber es geschah nichts, obwohl auf den benachbarten Dächern eigentlich Bogenschützen hätten postiert sein müssen. Shens Glück schien auf sie abzufärben.

Er erreichte den Turm, steckte die Flasche in einen seiner unzähligen Beutel und kletterte die ersten drei Meter der blanken Mauer wie ein tollwütiger Affe hinauf. Jia musste alles an Hebelwirkung und Kraft aufbringen, um mitzuhalten.

Zhou wurde unter ihnen immer kleiner. Dunkelheit lag über der schlafenden Stadt – mit Ausnahme des von Shen ins Leben gerufenen Fests des Zei im Kleinformat7 und der leuchtenden Gruppen aus Fackeln und Laternen des Ewigen Markts im Osten.

Jia stellte schließlich fest, dass Shen an der Wand mehr oder weniger gerade hinaufkletterte. Sie sah genauer hin und bemerkte klug gesetzte ungleichmäßige Einkerbungen im polierten Stein, die von unten nicht sichtbar waren.

„Auf diesen Turm ist schon mal jemand geklettert“, sagte sie.

„Oh ja“, sagte Shen, der nicht mal ansatzweise außer Atem war. „Mein Sohn kommt recht häufig her.“

„Euer Sohn?“, fragte Jia. „Aber Ihr deutet doch andauernd an, dass ...“

„Ich im Zölibat lebe? Niemals. Die Frauen würden eher Berge ins Meer werfen, statt so etwas zu erlauben.“

„Nein, dass Ihr ein Gott seid. Und redet bitte nicht über S... über das Zölibat“, sagte sie und errötete.

„Warum nicht?“, fragte Shen unschuldig und hielt inne, um sich an seinem bärtigen Kinn zu kratzen, wobei er sich mit einer knochigen Hand an einer Spalte festhielt.

„Na ja, Ihr seid ...“

„Unglaublich gut aussehend? Angenehm parfümiert?“

„Alt.“

„Das stimmt“, sagte Shen und nickte voller Bedauern. „Ich bin alt. Vor allem zu alt, um diese schwere Weinflasche noch länger zu tragen. Hier.“

Er ließ die Flasche fallen und Jia bekam sie gerade noch zu fassen, bevor sie an ihr vorbei auf das Kopfsteinpflaster weit unter ihr gekracht wäre.

„Was soll ich damit machen?“

„Trinken“, sagte Shen. Ein Windstoß wirbelte seine Robe auf, als er einen Fuß in der Sandale gegen einen winzigen Spalt stemmte. „Dann zerschlagt Ihr die Flasche, um den Kater zu verscheuchen!“

„Ich werde doch nicht ... In Ordnung, funktioniert das etwa?“

„Schon möglich“, sagte Shen. „Mir gefallen Kater ja. Die erinnern mich an ...“

Er verstummte. Die Stille kam so unerwartet, dass Jia den Drang verspürte, sie auszufüllen.

„Erinnern Euch an ...?“

„Ach, Erinnerungen“, sagte Shen und grinste zu ihr hinab.

Zum ersten Mal betrachtete Jia ihn genau. Hinter diesem seltsam vertraut wirkenden Bart und dem lockeren Lächeln hatte sie einen hauchzarten Anflug von ... Traurigkeit gesehen, weggesperrt hinter hohen Mauern und einem befestigten Tor. Einem Tor, das wieder geschlossen war.

„Ihr habt über Euren Sohn gesprochen“, sagte sie und steckte die Flasche in ihre gefütterte Rüstung.

„Oh, ja. Er stürmt diesen Turm öfter hinauf, als er sollte. Er und Liang sind nämlich ein heimliches Liebespaar.“

Jias Hand blieb mitten in der Luft stehen.

„Die Raue Liang? Die Beraterin, an deren Turm wir gerade hängen? Diese Liang?“

„Ganz genau“, sagte Shen fröhlich. „Sie lieben sich schon seit vielen Jahren. Eigentlich seit Jahrzehnten.“

„Das ist unmöglich“, sagte Jia. Über das mangelnde Interesse der Beraterin an Romanzen waren schon Lieder geschrieben worden. Liang hatte hundert Anträge verschiedener Mitglieder der Großen Familien abgelehnt – für Jia eine ihrer wenigen guten Eigenschaften.

„Nicht unmöglich. Nur überraschend. Ab jetzt solltet Ihr nur noch flüstern“, fügte Shen hinzu. Über ihnen zeichnete sich das Fenster der Beraterin ab.

„Und dieser Sohn“, fragte Jia, die sicher war, dass Shen mit ihr spielte. „Ist das auch ein berühmter Frauenheld? Wie ein junger Gott?“

„Ach, hab ich das nicht erwähnt?“, fragte Shen. „Ihr kennt ihn als den Gebrochenen.“

Jia rutschte ab. Schneller als ein Blitz griff Shen mit einem Ächzen nach unten und erwischte sie am Handgelenk. In schwindelerregender Höhe und heulendem Wind baumelten ihre Stiefel in der Luft.

„Vorsicht“, war alles, was er sagte, bevor er sie zur Wand schwang. Mit dem Gesicht am kalten Stein klammerte sie sich kurz daran, um Luft zu holen.

„Nein“, brachte sie schließlich heraus. „Wir liegen im Krieg mit Liangs Stadtwache. Sie hassen einander.“

„Eine gewisse Leidenschaft ist sicherlich im Spiel“, sagte Shen und bewegte sich weiter. Das Thema oder der Beinaheabsturz – eines von beidem hatte den lockeren Humor von seinem Gesicht gewischt.

Das Fenster befand sich jetzt nur noch anderthalb Meter über ihnen.

„Ihr irrt Euch! Der Gebrochene würde uns nie verraten.“ Sie hörte die Verzweiflung in ihren Worten und hasste sich dafür.

„Ihr gegenüber war er zuallererst loyal“, sagte Shen sanft. „Und die Zehnte liegt abgeschlagen auf dem dritten Platz.“

„Auf dem dritten? Und was ist mit dem zweiten?“

„Gut, dass Ihr fragt!“, sagte Shen strahlend. „Das ist das Geheimnis, das Ihr hier aufdecken sollt.“

Danach zog er sie mit einem sehnigen Arm an ihrer Rüstung zum Fenstersims.

Wie eine Klinge drang das Mondlicht in das Schlafgemach der Beraterin ein und fiel auf einen luxuriösen Teppich, einen Kamin und ein Bett. Mit dem Gesicht zur Wand stehend zog die Raue Liang eine Robe über ihren nackten Rücken und die blassen Schultern.

Mit freiem Oberkörper, der fast nur aus Narben bestand, kam der Gebrochene aus der Dunkelheit und stellte sich hinter sie. Mit den Händen eines Mörders fasste er sie am Hals und zog ihr Kinn ganz sanft nach oben, um sie zu küssen ...

Es war wie auf dem Dach. Bevor ihr Verstand es überhaupt erfasst hatte, war sie mit gezogenem Dolch durch das Fenster gesprungen.

Die Raue Liang riss sich aus den Armen des Gebrochenen los. Ihr Mund öffnete sich ...

... aber der Gebrochene legte seine Hand darüber und hielt die Beraterin zurück. Mit undurchdringlicher Miene starrte er Jia an und sie wusste, dass er sie nicht lebend ziehen lassen konnte. Keiner von beiden konnte es.

Sie würde nicht auf demselben Weg fliehen, auf dem sie gekommen war. Sie machte einen Satz über die Kante und hielt dem Habgierigen Shen eine Hand hin ... doch der war verschwunden. An der Mauer bis hinunter zum Hof gab es keine Spur mehr von irgendwelchen Verrückten, die sich für Götter hielten. Mit einem Fluchen wirbelte sie gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, dass der Gebrochene seine Hand nach ihr ausstreckte ...

Mit ihrem Dolch verpasste sie ihm einen Hieb an seinem Handgelenk, duckte sich unter seinem Arm, als er zurückwich, und sprintete zum letzten verbleibenden Ausgang ...

„Wachen!“, brüllte Liang hinter ihr. Zwei Wachmänner stürmten mit gezogenen Schwertern durch die Tür – ihre einzige Fluchtmöglichkeit. Ohne nachzudenken zog Jia Shens Flasche aus ihrer Rüstung und warf sie dem nächststehenden Angreifer an den Kopf, der daraufhin zur Seite stolperte. Flink wich sie dem silbernen Bogen des Hiebs der anderen Wache aus, stieß ihren Dolch in seinen Unterarm und fing das herunterfallende Schwert auf.

Sie beachtete das Kreischen der Wachmänner nicht, drehte sich um und konnte – oh Gott! – Liangs Klinge gerade noch abwehren. Diese Frau hatte dutzende Meuchelmörder der Zehnten getötet. Jias Familie. Und der Gebrochene, ihr Beschützer, liebte sie ...

Mit blutendem Handgelenk stürmte der Gebrochene durch das Schlafgemach. Liang schlug einmal, zweimal zu und Jia bewegte sich zischend vor Wut im Gleichtakt mit dem Schwung der Hiebe. Sie parierte an den Kanten der Klinge der Beraterin, drehte sich herum ...

... und schleuderte mit einem einzigen Schrei, der all ihren verzweifelten Zorn enthielt, den Dolch und das Schwert gegen die Brust des Gebrochenen.

Er schlug sie zur Seite und stürmte weiter auf sie zu.

Sie drehte sich um und rannte aus dem Schlafgemach durch den Korridor zu einer Wendeltreppe. Von unten ertönten die Schritte schwerer Stiefel. Sie musste also nach oben.

Oben erwartete sie der Tod, das wusste sie. Sie würde sterben und ihre Familie würde weiter für die Lügen des Gebrochenen leiden ...

Sie erreichte die mondbeschienene Spitze des Turms. Alles war seltsam ruhig. Und natürlich war es auch eine Sackgasse.

Jia lief keuchend zur Dachkante, um nachzusehen, ob jemand seit ihrem Aufstieg vielleicht doch noch eine Leiter angebracht hatte. Nein. Es ging steil bis zum Hof nach unten. Sie könnte es zum Fenster der Beraterin und den Griffen schaffen, allerdings nicht schnell genug. Und an den Schreien hörte sie, dass die Wachen schon fast da waren.

Jia schloss die Augen. Es gab eine Geschichte. Eine Geschichte über Zei ...

Auf der Flucht vor den Herren des Feuers kletterte der schlaue Zei bis zur Spitze des Himmels hinauf. Und als sie ihn verhöhnten, küsste Zei der errötenden Dämmerung auf die Wange und sprang ...

Jia öffnete ihre Augen. Stahl kratzte über den Stein, als sich hinter ihr die Wachen näherten. Vielleicht würde sie niemals zum Horizont reisen, wie sie es sich erhofft hatte, aber einmal könnte sie noch fliegen ...

Sie drehte sich von der Kante weg und ihre Ferse stand am Rande der Vernichtung. Mindestens zwanzig grinsende Wachen mit Lanzen und edlen Schwertern hatten sie im Halbkreis umzingelt. Zwanzig Soldaten, die ihrer Familie weiterhin Leid antun könnten.

Sie seufzte und griff an.

Sie wich einem Schwerthieb auf ihren Hals aus. Eine Lanze stieß in Richtung ihres Rückens und sie ließ sie hinter sich passieren, bevor sie das Heft ergriff und sie der Wache aus den Händen riss.

Das Geräusch von Eiche auf Stahl erklang, als sie mit dem Griff der Lanze gegen Helme schmetterte, und eine Wache fiel schreiend auf das Dach, nachdem sie ihm die Spitze gekonnt durch einen Spalt in den Beinplatten in seinen Oberschenkel gerammt hatte. Jia kämpfte weiter, obwohl sie wusste, dass sie verlieren würde. Sie trieben sie zur Dachkante und ein Glückstreffer spaltete ihre Lanze in zwei Hälften. Eine der Wachen ergriff sie von hinten. Mit einem Knurren schlug sie ihm mit der Waffe auf den Fuß, drehte sich aus seinen Armen heraus, und versenkte die Spitze in seiner Brust.

Das Heft zersplitterte. Sie entriss dem Angreifer das Schwert, bevor er vom Turm fiel, und sprang mitten in die Männer, die sie töten würden. Mit jedem Schwung ihrer Klinge wehrte sie mehrere Hiebe ab und jeder Schlag traf auf Fleisch. Lachend tänzelte sie, wirbelte herum und kämpfte weiter und weiter ...

Als noch neun Wachen übrig waren, schlug einer sie mit seinem Panzerhandschuh nieder und ein weiterer trat ihr das Schwert aus der Hand.

Benommen sah Jia, wie der Schatten der mondbeschienenen Axt sich über ihren Kopf erhob, und hörte jemanden ... jemanden, der die Treppen hinauflief ...

Der Gebrochene stürzte aus dem Treppenhausschacht, packte zwei Wachen am Nacken und warf sie vom Turm. Er wirbelte herum und fing eine Lanze hinter seinem Kopf ab, als die Spitze gerade seine Haut streifte. Mit einem Rückhandschlag zerschmetterte er den Helm des Angreifers.

Jia sprang in Richtung des Schwerts und bekam es gerade noch rechtzeitig zu fassen, um einen Hieb gegen ihren Oberkörper zu parieren. Mit von Blut triefenden, aufgerissenen Fingerknöcheln erhob sich der Gebrochene hinter dem unglückseligen Wachmann, nahm seinen Kopf zwischen die massiven Hände und drückte zu.

Die restlichen fünf Wachen wichen zurück, da sie den Gebrochenen kannten. Doch Jia wusste, dass er sie nicht verschonen konnte. Wie sie, waren auch die Wachen Zeugen ...

... Doch dann runzelte Jia nachdenklich die Stirn und erkannte, dass der Gebrochene auch sie hätte sterben lassen können.

Der Mann, den der gebrechliche alte Habgierige Shen seinen Sohn genannt hatte, tötete in wenigen Sekunden drei weitere Männer. Die letzten beiden schlug er so lang gegeneinander, bis sie sich nicht mehr bewegten, und warf sie danach die Treppen hinunter.

Er drehte sich um und Blut strömte aus Dutzenden Wunden.

„Sie ist deine Mutter“, sagte er.

Jia starrte ihn ausdruckslos an. Shens Geheimnis. Liang und der Gebrochene hatten sich seit Jahrzehnten geliebt ...

„Und Ihr ...“

„Ja.“

Er hatte nicht versucht, ihr wehzutun. Er hatte versucht, Liang, die sie nicht erkannt hatte, aufzuhalten.

Jia bemerkte, dass sie seine Augen hatte. Zum ersten Mal sah er sie wirklich an.

„Ich wusste, dass er dich herbringen würde“, sagte er. „Um jeden Preis.“

Wäre das eine dieser Geschichten aus Kindertagen gewesen, sie hätte ihn sofort in die Arme genommen. Stattdessen gab sie ihm eine Ohrfeige und hätte alles gegeben, sie zurückzunehmen.

„Es tut mir leid“, sagte der dunkeläugige Riese. „Ich bin ein Ziel. Und ich konnte nicht zulassen, dass du auch eines wirst.“

Zu ihrer Linken strich Seide über den Stein. Die Raue Liang beobachtete sie aus den Schatten des Treppenhausschachts. Nun, da Jia wusste, wonach sie zu suchen hatte, konnte man nicht mehr verleugnen, dass sie und die Beraterin sich fast wie ein Ei dem anderen glichen.

Die Raue Liang biss die Zähne zusammen, drehte sich wortlos um und ging die Treppen hinunter.

„Sie hat dich seit deiner Geburt nicht mehr gesehen“, sagte der Gebrochene. „Sie hätte die Wachen nicht geschickt, wenn sie gewusst hätte, dass du es bist.“

„Ich weiß nicht, ob ich das glauben kann“, sagte Jia und erinnerte sich an die kalte Wut in den Augen ihrer Mutter.

„Du kennst sie nicht“, sagte ihr Vater, doch der riesige Mann klang unsicher.

„Ihr aber schon“, sagte Jia ausdruckslos.

„Seit wir als Kinder auf den Straßen um Essen gekämpft haben“, sagte er. „Aber als ich die Zehnte zu meiner Familie machte, ist sie ihren Weg fortan allein gegangen.“

Jia spürte, wie unwillkommene Bewunderung ihr Herz in Aufruhr versetzte. Ihre Mutter hatte sich durch Gerissenheit und Willenskraft von der Straße nach oben gearbeitet, die richtigen Verbindungen genutzt, die Position der Beraterin eingenommen, überlebt ...

... und dann als Raue Liang die meuchelmordenden Kinder ihres Liebhabers gejagt. Jia konnte ihr nicht verzeihen, selbst wenn sie darum gebeten hätte.

„Wir sollten mit ihr reden“, sagte der Gebrochene. „Jetzt, da sie dich gesehen hat ...“

Jia seufzte, als sie langsam verstand. Er ist zuallererst loyal gegenüber Liang, danach mir und dann der Zehnten, will jedoch keinen davon verlieren ...

„Wir werden niemals eine Familie sein“, sagte sie. „Verstanden? Sie wird nicht aufhören, nur weil Ihr sie liebt. Es wird mit ihrem Tod oder von unserem Blut gefärbten Straßen enden, und das wisst Ihr.“

„Sie ist deine Mutter“, sagte er.

„Nein“, sagte Jia und hockte sich an die Dachkante. „Sie ist Eure Geliebte. Ich bin eine Waise.“

Dann kletterte sie hinab und ließ den Gebrochenen umgeben von Toten allein auf dem Dach zurück.


3Mit anderen Worten: wichtig für die Große Familie, die dem Berater am meisten zahlte.

4Siehe oben.

5Wenn ein Vertrag einen raffinierten Meuchelmord verlangt, schickt Stiefvater Yao einen älteren Bruder oder eine ältere Schwester. Tanten und Onkel übernehmen nur Aufträge, wenn unmissverständlich klargestellt werden muss, dass bestimmte Zeitgenossen die Zehnte Familie sehr verärgert haben.

6Wenn es um die Konkurrenz in Zhou ging, verstand die Zehnte keinen Spaß. Freischaffende Diebe, Betrüger und Hehler zahlten der Familie entweder einen Teil ihrer Einnahmen oder verloren einen Teil – normalerweise von etwas Lebenswichtigem.

7In Xiansai gibt es viele Festtage, an denen man sich in der Öffentlichkeit lächerlich macht. Nichts reicht jedoch heran an die totale Verdorbenheit des jährlichen Fests des Zei, in dessen Rahmen 14 stadtweite Paraden und erstaunlich vulgäre Nachstellungen der zahlreichen Abenteuer des Gottes stattfinden. Die traditionelle Flut an Streichen führt dazu, dass fast immer ganze Viertel noch Wochen später unbewohnbar sind.

Die Waise und der Juwelenschmied

Juwelenschmied

Ladet die Geschichte als PDF herunter